
Seinvergessenheit und Ursprung des Lebens: Eine kritische Reflexion aus molekularbiologischer und systemtheoretischer Sicht
Einleitung In einer Zeit, in der Selbstoptimierung, Effizienz und Kontrolle das gesellschaftliche Leitbild zu dominieren scheinen, gerät das Wesentliche leicht aus dem Blick: das Sein selbst. Die moderne, durch Narzissmus und Normopathie geprägte Kultur verliert zunehmend den Bezug zu den Ursprüngen des Lebens. Doch gerade die Erkenntnisse aus Molekularbiologie und Systemtheorie führen uns eindrucksvoll vor Augen, wie tief verwurzelt das Leben in Selbstorganisation, Emergenz und relationaler Verbundenheit ist. Dieser Beitrag beleuchtet, wie eine „Seinvergessenheit“ in der heutigen Gesellschaft sowohl philosophisch als auch biologisch zum Ausdruck kommt.
1. Die Idee der Seinvergessenheit Der Begriff der Seinvergessenheit wurde von Martin Heidegger geprägt. Er beschreibt einen Zustand, in dem der Mensch den existenziellen Bezug zum Sein verdrängt und stattdessen in ein technokratisches Weltverhältnis flüchtet. In einer Kultur, die von Leistung, Normierung und Selbstinszenierung geprägt ist, gerät das tiefe Staunen über das Leben und seine Herkunft zunehmend in den Hintergrund. Der Mensch fragt nicht mehr: „Was heißt es, zu sein?“, sondern: „Wie kann ich funktionieren, angepasst und erfolgreich sein?“
2. Narzissmus und Normopathie als kulturelle Dynamik Nach Hans-Joachim Maaz ist die moderne Gesellschaft durch zwei pathologische Grundmuster charakterisiert:
- Narzissmus: Der Zwang zur Selbstdarstellung, Selbstoptimierung und zur Suche nach Anerkennung.
- Normopathie: Die kollektive Krankheit einer Gesellschaft, die krankhafte Normen für gesund hält. Es handelt sich nicht um eine individuelle Störung, sondern um ein gesellschaftliches Syndrom. In einer normopathischen Gesellschaft gelten destruktive Anpassung, emotionale Kälte, Konsumismus oder Funktionalitätsdenken als „normal“, weil sie mehrheitlich gelebt werden – obwohl sie in Wahrheit entfremden und seelisch wie ökologisch destruktiv wirken.
Diese kulturellen Dynamiken führen dazu, dass der Mensch sich von seinen biologischen und existenziellen Wurzeln entfernt. Das Leben wird zur Leistung, der Körper zur Maschine, die Natur zur Ressource.
3. Der Ursprung des Lebens aus molekularbiologischer Sicht Die moderne Molekularbiologie zeigt: Leben ist keine Konstruktion, sondern Ergebnis komplexer Selbstorganisation. Hypothesen wie die RNA-Welt oder autokatalytische Netzwerke weisen darauf hin, dass Leben nicht gemacht, sondern entstanden ist – aus einer tiefen Dynamik molekularer Emergenz heraus.
Diese Erkenntnisse führen zu einer Haltung des Staunens: Leben ist nicht planbar, sondern geschieht. Es ist Ausdruck einer tieferen Ordnungsdynamik, die wir nur bedingt verstehen können. Eine seinverbundene Haltung erkennt diese Offenheit des Lebendigen an, statt sie durch technische Machbarkeit zu ersetzen.
4. Systemtheoretische Perspektiven: Autopoiesis und Emergenz In der Systemtheorie (v. a. nach Maturana & Varela) wird Leben als autopoietisches System beschrieben: Es erzeugt und erhält seine eigene Organisation. Diese Systeme sind strukturell determiniert, nicht steuerbar im klassischen Sinn, sondern in permanenter Wechselwirkung mit ihrer Umwelt.
Die heutige Gesellschaft jedoch neigt dazu, lebende Systeme wie Maschinen zu behandeln. Optimierung, Kontrolle und kybernetische Steuerung verdrängen das Verständnis für Selbstorganisation, Verletzlichkeit und Nichtlinearität des Lebendigen.
5. Die gesellschaftliche Seinvergessenheit und Herkunftsvergessenheit des Biologischen Wir leben in einer Kultur, die den Körper optimieren, das Bewusstsein hacken, den Alterungsprozess stoppen und biologische Prozesse kontrollieren will. Dabei verlieren wir den Bezug zur elementaren Erfahrung des Lebendigseins:
- Wir essen ohne Verbindung zur Erde.
- Wir atmen, ohne es zu spüren.
- Wir altern, ohne es zu akzeptieren.
Neben der Seinvergessenheit zeigt sich eine tiefgreifende Herkunftsvergessenheit: Der Mensch verliert das Bewusstsein für seine molekulare, evolutionäre und systemische Herkunft. Leben wird als Objekt technischer Kontrolle betrachtet, nicht mehr als Geschenk emergenter Selbstorganisation. Unsere biologische Herkunft aus Wasser, Hitze, Symbiose, RNA und Zufall – sie ist aus dem kulturellen Bewusstsein verschwunden.
Das biologische Selbst wird zum Objekt der Verfügbarkeit. Statt Leben zu verstehen, wollen wir es beherrschen. Statt mit dem Leben zu kooperieren, versuchen wir, es zu manipulieren. Diese Haltung ist Ausdruck einer tiefen Vergessenheit von Sein und Herkunft.
Resümee: Eine Rückkehr zum Staunen Die Rückbesinnung auf das ursprünglich Selbstorganisierende, Lebendige, Nichtverfügbare ist nicht nur eine philosophische Aufgabe, sondern eine existentielle Notwendigkeit. Molekularbiologie und Systemtheorie zeigen uns, dass Leben nicht gemacht, sondern empfangen, begleitet und geschützt werden will. In einer Zeit kollektiver Entfremdung könnte genau dieser Perspektivwechsel der Anfang einer neuen Kultur des Lebendigen sein.
„Wir leben in einer Welt, die das Leben verstehen will, ohne sich selbst dem Leben auszusetzen.“
Ihr
Eduard Rappold
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