
Das kreative Selbst – Wie Beethoven die 9. Symphonie aus der Stille schuf
Dass Ludwig van Beethoven seine 9. Symphonie komponieren konnte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits fast vollständig taub war, gilt als eines der größten Wunder der Musikgeschichte – und als eindrucksvolles Zeugnis menschlicher Schaffenskraft. Ohne äußeres Hören, aber mit einer gewaltigen inneren Vorstellungskraft setzte er ein Werk in die Welt, das bis heute als Ausdruck universeller Freude und geistiger Größe gilt.
Beethoven arbeitete – wie alle Komponisten – in Teilen. Doch er besaß die außergewöhnliche Fähigkeit, das Gesamtwerk geistig zu erfassen, zu strukturieren und innerlich zu „hören“, ohne akustische Rückmeldung. Was ihm fehlte, war die Echtzeitkontrolle des Klangs – nicht jedoch die Fähigkeit zur vollständigen inneren Klangwelt.
Vorstellungskraft jenseits der Sinne
Dass dies keine Ausnahme ist, zeigt ein Blick auf andere Künstler:innen, die nach dem Verlust zentraler Sinne weiter wirkten:
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Der blinde Maler Esref Armağan malt Perspektive, Licht und Schatten – ohne je gesehen zu haben.
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Claude Monet malte bis zuletzt, obwohl ihm der graue Star das Sehen zunehmend entzog.
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John Bramblitt, völlig erblindet, erkennt Farben an ihrer Textur – und malt Gesichter, die er nie gesehen hat.
All diese Menschen zeugen von einem einfachen, aber tiefen Prinzip:
Kunst entsteht nicht im Auge – sondern im Gehirn.
Unsere Gedanken sind die Welt – nicht umgekehrt
Dieser Gedanke lässt sich ausweiten:
Nicht nur die Kunst, sondern die gesamte Welt entsteht in unserem Bewusstsein.
Was wir sehen, hören, fühlen – ist kein direktes Abbild einer objektiven Realität, sondern eine Interpretation unseres Geistes.
1. Wahrnehmung ist Interpretation
Unsere Sinne liefern Rohdaten. Erst das Gehirn formt daraus Farben, Klänge, Emotionen, Bedeutungen.
Ein Tauber kann Musik fühlen.
Ein Blinder kann Bilder „sehen“ – aus inneren Mustern und Erinnerung.
2. Die Welt ist, wie wir sie erleben
Phänomenologisch gesprochen: Die Welt ist nicht, was sie ist – sondern wie sie uns erscheint.
Kant formulierte es so:
„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind – sondern wie wir sind.“
Neurowissenschaftlich untermauert: Alles Erleben ist konstruiert, subjektiv, bewusstseinsabhängig.
3. Kunst als Ausdruck der Innenwelt
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Der Dichter erschafft Wirklichkeit durch Sprache.
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Der Komponist hört Musik, die niemand sonst hört.
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Der Maler bringt innere Bilder zur Welt.
4. Bewusstsein als Weltgenerator
Unsere Gedanken sind nicht in der Welt – unsere Welt ist in den Gedanken.
Die objektive Welt mag existieren – aber sie ist uns nur über subjektives Erleben zugänglich.
Woher kommen Gedanken?
Die spontane Eingebung, das poetische Bild, die musikalische Idee – sie „kommen“ zu uns. Doch woher genau?
1. Bewusstsein
Das ist, was wir gerade erleben:
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Denken, Aufmerksamkeit, Entscheidung.
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Die Oberfläche des Geistes.
2. Vorbewusstes
Ein „Zwischenreich“:
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Erinnerungen, Wortbilder, unklare Impulse.
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Gedanken, die nicht aktiv bewusst, aber jederzeit verfügbar sind.
Ein Einfall „kommt plötzlich“ – aber er war bereits da, im Vorbewussten gespeichert.
3. Unbewusstes
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Verdrängtes, Archaisches, Körpergedächtnis.
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Träume, Ängste, Muster.
Viele kreative Prozesse beginnen dort – tief unterhalb des bewussten Denkens.
Der Ablauf (typisch kreativ):
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Reize oder Emotionen aktivieren innere Netzwerke.
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Diese verarbeiten Inhalte außerhalb des Bewusstseins.
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Plötzlich: die Idee. Der Gedanke. Das Bild.
Das kreative Selbst – zwischen Bewusstsein, Vorbewusstem und Tiefe
Das Selbst ist kein Ding, sondern ein Strom.
Es bewegt sich zwischen:
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Bewusstsein (die Bühne),
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Vorbewusstem (der Souffleur),
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Unbewusstem (die dunkle Erde, aus der Ideen wachsen).
Gerade das Vorbewusste ist die Zone der Reifung:
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Musik entsteht, bevor sie gehört wird.
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Gedanken bilden sich, vor dem Denken.
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Identität formt sich, bevor sie ausgesprochen wird.
Das Vorbewusste – Quelle und Schwelle
Das Vorbewusste ist kein Nebel, sondern ein Resonanzraum:
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Hier reift das Unfertige.
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Hier wirken Erfahrungen, Gefühle, innere Bilder.
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Hier lebt das kreative Selbst – durchlässig, empfangend, gestaltend.
Schlussgedanke
Nicht das Ich erschafft den Gedanken – der Gedanke erschafft das Ich.
Gedanken bilden sich, bevor wir sie denken.
Beethoven hörte, bevor Klang erklang.
Der blinde Maler sah, bevor sich das Bild formte.
Der schöpferische Mensch empfängt, was in ihm bereits unterwegs ist.
Das kreative Selbst ist kein Autor –
es ist ein Raum, in dem Welt Gestalt annimmt.
Ihr
Eduard Rappold
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