
„Schubert, für immer und ewig“- Verstimmung statt Resonanz: Wenn moralische Haltung Kunst zum Verstummen bringt
Verstimmung statt Resonanz – Wenn Haltung den Ton ersetzt
In den späten Ausläufern der Postmoderne hat sich eine paradoxe Bewegung vollzogen: Während Kunst einst dem Aufbrechen von Konventionen diente, verkehrt sich dieser Impuls heute oft in eine neue, subtile Form von Anmaßung. Die Haltung steht über der Erfahrung, der moralische Gestus über dem fein abgestimmten Dialog. Wo einst Sinn gesucht wurde, steht nun die Entlarvung. Was früher als Einladung zur Teilhabe gemeint war, erscheint heute vielen als kultureller Übergriff.
Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Entwicklung bietet das Projekt „Fremd bin ich eingezogen“, in dem der Dramatiker Peter Turrini und der Musiker Oliver Welter sich an eine radikale Neulesung von Franz Schuberts Winterreise wagen. Ursprünglich ein Werk von melancholischer Tiefe und feiner Introspektion, wird Schubert hier in die Gegenwart gezerrt – als Allegorie für den Entfremdeten, den Fremden, den Flüchtling. Doch statt behutsamer Interpretation erleben wir eine ästhetische Zerschlagung: Welters Gesang klingt nicht nach Resonanz, sondern nach Riss. Er singt nicht, er stößt ab. Was als politische Geste gemeint ist, wirkt wie ein Bruch mit der eigenen kulturellen Erinnerung.
Das ist nicht per se illegitim. Kunst darf verstören. Doch verstören ist nicht dasselbe wie verstimmen. Die eigentliche Frage lautet: Wird hier ein Dialog mit dem Werk geführt – oder dient das Werk nur noch als Material für die eigene Haltung?
In der Sprache der Epigenetik gesprochen: Auch kollektive kulturelle Gedächtnisse hinterlassen Spuren – als Resonanzräume, die in uns etwas anklingen lassen, was über das Rationale hinausreicht. Wenn diese Räume durch moralische Überformung übertönt werden, verliert sich nicht nur das Werk – es verliert sich auch der Mensch darin. Denn das Selbst formt sich nicht im Schock, sondern in Beziehung.
Wenn politische Kunst zu laut wird, überlagert sie jene feinen epigenetischen Erzählstränge, die im Unbewussten wirken – als Muster von Zugehörigkeit, Scham, Sehnsucht oder Erinnerung. Schuberts Winterreise ist solch ein Muster – ein emotionales Erbe, das Generationen verbindet. Wenn es zum bloßen Vehikel politischer Aussage degradiert wird, geht nicht nur die Musik verloren, sondern auch der Resonanzboden, auf dem sich Identität bildet.
So betrachtet, ist das Problem der postmodernen Arroganz nicht nur ein ästhetisches, sondern ein zutiefst epigenetisches. Denn auch kulturelle Verletzungen, auch Formen der symbolischen Entfremdung hinterlassen Spuren – nicht nur in neuronalen Bahnungen, sondern in der Art, wie Menschen sich selbst und andere empfinden: als Teil – oder als Fremdkörper.
Ihr
Eduard Rappold
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