
Epigenetik und Simulakrum – Wie Umweltnarrative biologische Identität prägen. Eine metamoderne Annäherung an die Verschränkung von Zeichen, Selbstbild und Zellgedächtnis – Erster von neun Beiträgen
Einleitung: Wenn Zeichen Zellen formen
Wir leben in einer Welt, in der nicht nur unser Denken, sondern auch unser Körper auf Zeichen reagiert: auf Narrative, Bilder, gesellschaftliche Rollen, auf Erwartungen und wiederholte Zuschreibungen.
Diese Zeichen wirken nicht nur psychologisch – sie hinterlassen Spuren auf molekularer Ebene.
Willkommen an der Schnittstelle von Jean Baudrillards Theorie des Simulakrums und der Epigenetik. Willkommen im Zeitalter der metamodernen Identität – formbar, reflektiert und dennoch verletzlich.
1. Simulakrum: Zeichen ohne Ursprung – und ihre Wirkung auf das Selbst
Baudrillard prägte den Begriff des Simulakrums: ein Zeichen, das sich von seinem Ursprung gelöst hat. Ein Selfie ist kein Selbst. Ein Algorithmus-gesteuertes Rollenbild ist keine Identität – aber wir leben in diesen Bildern, reagieren auf sie, internalisieren sie.
> Simulakren sind nicht neutral. Sie erzeugen Resonanz im System Mensch.
Das Selbst wird nicht nur psychologisch, sondern epigenetisch modelliert – durch Erfahrung, Bindung, Stress, Zugehörigkeit, Bewertung. Was wir erleben und glauben, prägt die biochemischen Lesemuster unserer DNA.
2. Epigenetik: Das narrative Gedächtnis der Zelle
Die Epigenetik beschreibt, wie Mitwelt- und Umwelt-Faktoren bestimmen, welche Gene aktiv werden – durch Methylierung, Histon-Modifikation und RNA-Regulation. Doch Mitwelt und Umwelt sind nicht nur Toxin oder Ernährung – sie sind auch soziales Klima, Narrativ, Beziehungsstruktur.
Ein misshandeltes und missbrauchtes Kind trägt nicht nur psychische Narben – sein epigenetisches Profil verändert sich messbar.
Was, wenn gesellschaftliche Simulakren – etwa Geschlechterbilder, Schönheitsnormen, Leistungsnarrative – nicht nur Selbstbilder formen, sondern epigenetisch einwirken?
Dann leben wir in einer Welt, in der Narrative biologische Realität erzeugen.
3. Vom „falschen Selbst“ zum biologischen Echo – mit Maaz, Fried und Co.
Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz beschreibt das „falsche Selbst“ als Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen. Dieses Selbst ist ein inneres Simulakrum – psychisch notwendig, aber entfremdend.
Epigenetisch betrachtet: Dauerhafte Anpassung an falsche Erwartungen erzeugt Stresssignaturen, z. B. über das HPA-System, Cortisol, inflammatorische Gencluster.
▶ Der Körper wird Träger des sozialen Scripts.
Auch Erich Fromm hat diesen Prozess scharfsinnig analysiert. In seinem Werk „Die Furcht vor der Freiheit“ beschreibt er, wie Menschen in autoritären Strukturen ihre Autonomie gegen Sicherheit eintauschen – und dabei ihre Lebendigkeit verlieren.
Fromms humanistische Psychoanalyse erkennt in der Konformität eine stille Form der Selbstentfremdung. Seine Sprache war ein Appell an das „authentische Selbst“, das sich nicht über Konsum oder Gehorsam definiert, sondern über Beziehung, Kreativität und Verantwortung.
4. Die Metamoderne: Eine Chance zur Neuschreibung
Die Metamoderne erkennt die Konstruktion von Wirklichkeit – aber sie lehnt sie nicht zynisch ab.
Sie fragt:
Was wäre, wenn wir bewusstere Narrative gestalten – solche, die Körper und Geist nähren?
Was wäre, wenn unsere inneren Bilder Resonanz erzeugen statt Dissoziation?
Epigenetische Resilienz entsteht dort, wo Wahrnehmung, Beziehung und Bedeutung in Einklang kommen – nicht durch äußere Perfektion, sondern durch kohärente innere Erfahrung.
Das Simulakrum muss nicht zerstört werden – es kann verwandelt werden.
5. Konkrete Beispiele: Wie Simulakren auf Zellebene wirken können
Narrativ/Umweltzeichen | Mögliche epigenetische Auswirkung |
---|---|
„Du bist nur wertvoll, wenn du leistest.“ | Chronischer Stress, Cortisolanstieg, Genexpression pro Entzündung |
„Du bist nicht genug.“ | HPA-Achsen-Dysregulation, reduzierte neurogene Plastizität |
Achtsamkeits- & Selbstwirksamkeitserleben | Genexpression antiinflammatorischer Signalwege |
Positive soziale Resonanz | Oxytocin-vermittelt, Förderung von GABA- und Serotonin-Signalen |
6. Vom Trauma zur Transformation
Epigenetische Prägungen sind nicht Schicksal. Sie sind Reaktion auf Erfahrung – und daher veränderbar.
Metamoderne Medizin und Psychologie können lernen, soziale, kulturelle und mediale Simulakren zu erkennen und neu zu bespielen – nicht um der Illusion willen, sondern zur Förderung von Kohärenz und Reifung.
Die neue Aufrichtigkeit beginnt mit der Entscheidung, das eigene Selbstbild bewusst zu gestalten.
Resümee: Wir sind die Geschichten, die unsere Zellen lesen
Zwischen molekularem Gedächtnis und kultureller Bedeutung entsteht ein neuer Raum:
Epigenetik als poetische Biologie,
Kultur als biologischer Resonanzraum,
Identität als dynamisches Zusammenspiel von Zeichen und Zelle.
Ihr
Eduard Rappold
Hinweis: Diese Informationen werden zu Bildungszwecken bereitgestellt und ersetzen keinen professionellen medizinischen Rat. Wenden Sie sich immer an Gesundheitsdienstleister, um eine individuelle Beratung zu gesundheitsbezogenen Fragen zu erhalten.
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