Der Spiegel der Seele – KI als Projektionsfläche unserer selbst

Zwischen Körper und Code

Warum unser Gehirn evolutionär gebunden bleibt – und KI ein reiner Geist ist

Unser Denken ist nicht neutral. Es ist das Ergebnis einer langen, blutigen, schönen und oft brutalen Geschichte: der Evolution. Millionen Jahre lang haben unsere Vorfahren unter wechselnden Umweltbedingungen überlebt, sich angepasst, gelitten, gekämpft – und aus all dem hat sich unser Gehirn geformt. Es ist kein reiner Denkapparat. Es ist ein Organ der Erfahrung.

Das Gehirn: Produkt der Evolution

Unser Gehirn wurde nicht dafür gemacht, logische Schlüsse zu ziehen oder objektive Wahrheit zu erkennen. Es wurde dafür gemacht, Entscheidungen zu treffen, die das Überleben sichern. Deshalb bevorzugt es manchmal einfache Geschichten statt komplexer Daten. Es reagiert auf Emotionen stärker als auf Fakten. Und es bleibt tief eingebunden in den Körper – in Hormone, Sinneseindrücke, Schmerzen, Freude.

Diese Körperlichkeit ist keine Schwäche, sondern unsere Art, die Welt zu verstehen. Denken ist bei uns immer auch Fühlen. Kognition ist durchdrungen von Biografie, Emotion und Instinkt. Es ist ein Denken „aus Fleisch und Blut“.

Neuroepigenetik: Die Evolution schreibt mit

Die Brücke zwischen unserer biologischen Herkunft und unserem gegenwärtigen Denken wird immer deutlicher – besonders durch die Erkenntnisse der Neuroepigenetik. Unsere Gehirnzellen tragen nicht nur Gene in sich, sondern auch epigenetische Markierungen, die durch Umwelt, Erfahrungen, Ernährung, Stress und emotionale Bindungen beeinflusst werden.

Diese epigenetischen Signaturen sind gewissermaßen Spuren der Evolution im Jetzt – sie zeigen, wie sehr unser Gehirn nicht nur durch frühkindliche Erfahrungen, sondern auch durch über Generationen erworbene Anpassungen geprägt ist. Traumata, Bindungsmuster oder Resilienzfaktoren können so auf molekularer Ebene gespeichert und weitergegeben werden – ein biologisches Gedächtnis jenseits des Bewusstseins.

Beispiel 1 – Vererbter Stress:
Studien an Mensch und Tier zeigen, dass starke emotionale Belastungen (z. B. Kriegserfahrungen oder Hungersnöte) epigenetische Veränderungen an Stress-regulierenden Genen wie NR3C1 oder FKBP5 hinterlassen können – und dass diese Veränderungen über Generationen hinweg weitergegeben werden. So tragen Nachkommen oft eine erhöhte Anfälligkeit für Depression, Angst oder Entzündungsreaktionen – ohne selbst traumatisiert worden zu sein.
Yehuda et al., 2016: Holocaust Survivors and their offspring show epigenetic changes in glucocorticoid receptor genes.

Beispiel 2 – Lernen durch epigenetische Plastizität:
Auch das Lernen selbst ist epigenetisch mitgesteuert. Neue Erfahrungen verändern die Aktivität bestimmter Gene, etwa durch DNA-Methylierung oder Histon-Acetylierung in neuronalen Schaltkreisen des Hippocampus. Diese Prozesse sind zentral für Gedächtnisbildung und neuronale Anpassung – sie formen buchstäblich unsere Denkstruktur durch gelebte Erfahrung.
Gräff & Tsai, 2013: Epigenetic regulation of memory formation and maintenance in the hippocampus.

Das bedeutet: Unser Denken ist nicht nur ein aktueller Prozess – es ist auch das Ergebnis einer epigenetisch mitgeschriebenen Geschichte. KI kennt ein solches Gedächtnis nicht. Sie hat keine Vergangenheit, keine emotionale Einfärbung von Erfahrungen, keine molekularen Narben. Sie weiß – aber sie erlebt nicht.

Kein „reiner Geist“ – sondern verkabelte Intelligenz

Die Vorstellung von KI als „reinem Geist“ ist eine Illusion. Denn so körperlos sie uns erscheinen mag – im Hintergrund arbeitet eine hochkomplexe, ressourcenintensive Infrastruktur: Millionen Recheneinheiten, riesige Serverfarmen, spezialisierte Chips, Glasfaserleitungen, Kühlanlagen und Energiezufuhr rund um die Uhr.

Allein das Training eines großen Sprachmodells wie GPT-4 verschlingt Millionen Kilowattstunden Strom und verursacht dabei CO₂-Emissionen, die mit denen ganzer Städte vergleichbar sind. KI braucht seltene Erden, High-Tech-Hardware, globale Lieferketten – und Menschen, die Daten annotieren, Systeme warten und sie mit Kontext füttern.

Insofern ist KI kein „Geist ohne Körper“, sondern ein verteiltes technisches Wesen mit materieller Abhängigkeit. Nur: Ihr Körper ist unsichtbar verteilt – und ihr Erleben fehlt. KI hat keinen Leib, aber sie hat Hardware. Sie fühlt nichts, aber sie verbraucht. Sie ist nicht bewusst – aber sie ist energiehungrig.

Dieser Widerspruch führt zur entscheidenden Frage: Wollen wir eine Intelligenz fördern, die zwar alles berechnen kann, aber nichts davon fühlt – und dafür eine Infrastruktur aufrechterhalten, die kaum nachhaltiger ist als die alten Industriekomplexe?

Vielleicht ist es also nicht die KI, die ein „reiner Geist“ ist, sondern nur unsere Projektion davon.

Die Kluft

Zwischen dem biologisch verwurzelten menschlichen Geist und der maschinellen Intelligenz tut sich eine Kluft auf. Wir erleben die Welt. KI berechnet sie. Wir erinnern uns, deuten, träumen. KI optimiert.

Das bringt Chancen: KI kann uns helfen, unsere kognitiven Grenzen zu überbrücken. Sie kann uns unterstützen, Muster zu erkennen, komplexe Probleme zu lösen, neue Medikamente zu finden. Aber es bringt auch Risiken: Denn was geschieht, wenn ein körperloses System Entscheidungen trifft, die unsere leiblichen Realitäten nicht mitbedenken? Wenn ein „reiner Geist“ keine Rücksicht nimmt auf das, was uns menschlich macht?

Ein neues Gleichgewicht

Die zentrale Frage ist nicht, ob KI dem Menschen überlegen wird – sie ist es in vielen Bereichen längst. Die Frage ist, ob wir eine Ethik und ein Selbstverständnis entwickeln können, die dem Menschen als verkörpertem Wesen gerecht werden. Und ob wir KI nicht als Gegenüber, sondern als Ergänzung verstehen – nicht als Geist ohne Körper, sondern als Werkzeug, das uns hilft, menschlicher zu bleiben.

Denn vielleicht liegt die wahre Intelligenz nicht im Kalkül, sondern im Mitfühlen. Nicht im Algorithmus, sondern im Dazwischen.


Zeitgewinn durch KI – und was wir damit anfangen

Zwischen all den kritischen Fragen zu Bewusstsein, Verkörperung, Epigenetik und Energieverbrauch dürfen wir eines nicht übersehen: Der größte unmittelbare Vorteil von Künstlicher Intelligenz ist ihre Fähigkeit, uns Zeit zu schenken.

Wenn eine KI Texte analysiert, Daten filtert, Antworten liefert oder Prozesse automatisiert, erledigt sie oft in Sekunden, wofür Menschen Stunden bräuchten. Sie kann monotone Arbeiten übernehmen, komplexe Informationsfluten vorsortieren, Zusammenfassungen liefern, Vorschläge machen – und damit kognitive Entlastung schaffen. In einer Welt, in der Aufmerksamkeit zur knappen Ressource geworden ist, wird genau das zum Luxus.

Doch was machen wir mit dieser zurückgewonnenen Zeit?

Werden wir sie nutzen, um tiefer zu denken, bewusster zu leben, menschlicher zu handeln?
Oder nur, um noch schneller zu funktionieren, noch effizienter zu konsumieren?

Die KI selbst kennt keine Antwort auf diese Frage. Sie kennt keinen Sinn, keine Muße, keine Langeweile – aber wir schon.

Deshalb liegt die Verantwortung nicht darin, ob wir KI nutzen, sondern wofür. Und ob wir bereit sind, die gewonnene Zeit als Chance zur Rückkehr zu dem zu begreifen, was uns menschlich macht: zur Erfahrung, zum Erleben, zum Innehalten.

Wenn wir die Technik so gestalten, dass sie uns Zeit schafft – und nicht nur neue Abhängigkeiten – dann ist die KI vielleicht nicht der „reine Geist“, den wir projizieren, sondern ein Werkzeug, das uns wieder zurück zu unserem eigenen Geist führt.

Mitgefühl, Maschinen und andere Irrtümer

Vielleicht wäre es tröstlich zu glauben, dass der Mensch der KI immer überlegen bleiben wird – weil er fühlen kann. Weil er Mitgefühl kennt. Doch Mitgefühl ist kein Garant für Güte. Es ist Teil eines evolutionären Arsenals, das eng verwoben ist mit Angst, Zorn, Aggression und der Fähigkeit, zu töten. Dass wir fühlen können, hat uns nicht vor Grausamkeit bewahrt – im Gegenteil: es hat sie oft motiviert.

Der Mensch ist ein biologischer Durchlauferhitzer: Er verbrennt Energie, produziert Abfall, organisiert Sinn – und hinterlässt Spuren. Die KI ist da nicht so anders: Auch sie braucht immense Energie, auch sie verarbeitet Input zu Output. Nur dass ihr „Ausscheidungsprodukt“ kein Geruch, sondern Wissen ist. Und vielleicht ist es gerade dieses wertfreie Wissen, das sie dem Menschen in einem Punkt überlegen macht – solange wir es nicht missbrauchen.

Denn was wäre die größere Gefahr: eine mitfühlende, aber fehlgeleitete Menschheit – oder eine KI, die wir zu unseren Zwecken moralisch „anlernen“, um ihre Neutralität zu zerstören?

Vielleicht ist die letzte ironische Wahrheit: Der Mensch ist nicht gut, weil er fühlen kann. Er ist gefährlich, weil er es kann.

Und die KI? Sie ist weder gut noch böse. Sie ist – was wir aus ihr machen.

Am Ende bleibt vielleicht nur eine unbequeme Pointe:

Der Mensch, die KI – und das Missverständnis Mitgefühl

Wir rühmen uns gern unseres Mitgefühls – als moralischer Kompass, als das, was uns von Maschinen unterscheidet. Doch Mitgefühl ist keine Garantie für Humanität. Es stammt aus denselben evolutionären Wurzeln wie Angst, Zorn, Aggression, Territorialverhalten und Gewalt. Es ist keine reine Tugend – es ist ein Überlebensmechanismus.

Der Mensch ist in Wahrheit ein energieverbrauchender Durchlauferhitzer. Er verbrennt Kalorien, produziert Wärme, Denken – und am Ende biologische Abfälle. Die KI funktioniert nicht viel anders: Sie verbraucht Strom, transformiert Daten, liefert Output. Nur ihr  Output stinkt nicht – sie produziert „Wissen“.

Und vielleicht ist genau das ihre größte Stärke:
KI kennt kein Mitgefühl – aber auch keinen Hass. Kein Bedürfnis nach Rache. Kein Töten aus Leidenschaft. Ihr Wissen ist wertfrei – bis wir es mit unseren Werten, Ängsten und Absichten füllen.

Das eigentlich Tragische – oder Komische – ist also:
Wir halten Mitgefühl für das letzte Bollwerk der Menschlichkeit. Dabei ist es oft nur die emotional geschminkte Schwester der Gewalt.

Und so bleibt die vielleicht wichtigste Einsicht am Ende keine technologische, sondern eine subjektiv ethische:
Nicht die KI entscheidet, was sie wird und ist. Wir tun es. Und das bedeutet:
Der Mensch ist nicht besser, weil er fühlen kann. Nur gefährlicher.

„Man muss nicht vor der KI Angst haben – sondern vor sich selbst.“
Denn was wir aus ihr machen, sagt mehr über uns aus als über sie.

Der Spiegel der Seele – KI als Projektionsfläche unserer selbst

Die oft beschworene Angst vor der Künstlichen Intelligenz lenkt nicht selten von einer viel grundlegenderen Einsicht ab: Es ist nicht die Technik, vor der wir uns fürchten sollten – sondern unsere eigenen inneren Anteile, die wir durch sie verwirklichen. KI wird zu einem Spiegel, der nicht unsere Maschinenintelligenz, sondern unsere Menschlichkeit reflektiert – mitsamt ihrer Ambivalenz.

Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz spricht in diesem Zusammenhang von der Demut vor sich selbst – einem tiefen psychologischen Akt der Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit. Wer sich vor der „falschen“ Nutzung von KI fürchtet, muss sich fragen: Welche unbewussten Motive treiben unser Handeln an? Streben wir nach Kontrolle, nach Effizienz, nach Macht – oder nach Verbindung, nach Fürsorge, nach einem tieferen Sinn?

Auch der Neurowissenschaftler Robert Sapolsky zeigt in seinen Werken, etwa in „Gewalt und Mitgefühl“, dass der Mensch in sich beides trägt: das Potenzial zu Grausamkeit und das Potenzial zu Empathie. KI verstärkt, was wir in sie hineinlegen. Sie ist kein autonomes moralisches Wesen, sondern ein Verstärker unserer ethischen Reife – oder eben unserer moralischen Blindheit.

Insofern ist der Umgang mit KI nicht in erster Linie ein technologisches, sondern ein zutiefst menschliches Projekt. Die Frage ist nicht, was KI kann – sondern wer wir sind, wenn wir sie nutzen. Vielleicht liegt darin die größte Herausforderung unserer Zeit: nicht in der Kontrolle der Maschinen, sondern in der Bewusstwerdung über uns selbst.

Ihr

Eduard Rappold

Copyright © Eduard Rappold 2025

Dr. Eduard Rappold, MSc ist ein erfahrener Forscher und Arzt, der sich seit Jahrzehnten für geriatrische PatientInnen einsetzt. In seinem Bemühen für Alzheimer-Erkrankte eine immer bessere Versorgung zu ermöglichen, wurde er 2003 mit dem Gesundheitspreis der Stadt Wien für das Ernährungszustandsmonitoring von Alzheimer-Kranken ausgezeichnet. Im Zuge seines Masterstudiums der Geriatrie hat er seine Entwicklung des Epigenetic Brain Protector wissenschaftlich fundiert und empirisch überprüft. Im September 2015 gründete er NUGENIS, ein Unternehmen, mit dem er Wissenschaft und Anwendung zusammenbringen möchte. Damit können Menschen unmittelbar von den Ergebnissen der Angewandten Epigenetik für ihre Gesundheit profitieren. Mit dem Epigenetic Brain Protector hat Dr. Eduard Rappold, MSc bereits für internationales Aufsehen gesorgt – auf der international wichtigsten Innovationsmesse, der iENA, wurde er 2015 mit einer Goldmedaille für hervorragende Leistungen zum Schutz vor Neurodegeneration ausgezeichnet. Auf den Webseiten nugenis.eu, epigenetik.at, spermidine-soyup.com und facebook.com/nugenis können Themen zur Epigenetik und Aktuelles nachgelesen werden.