
Selbst als Nicht-Ich in der Auseinandersetzung mit Seinvergessenheit, Herkunftsvergessenheit und narzistischer Normopathie
Die Frage nach dem Selbst als Nicht-Ich berührt einen tiefen erkenntnistheoretischen, phänomenologischen und systemischen Bereich – mit weitreichenden Konsequenzen für Psychologie, Biologie, Philosophie und Spiritualität. Im Kontext der Auseinandersetzung mit Seinvergessenheit, Herkunftsvergessenheit und narzistischer Normopathie ist sie hochaktuell.
1. Was ist mit dem „Selbst als Nicht-Ich“ gemeint?
Das Ich ist gewöhnlich das Zentrum subjektiver Erfahrung: begrenzt, abgegrenzt, steuernd.
Das Selbst hingegen kann (je nach Perspektive) etwas viel Größeres, Umfassenderes sein:
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Nicht-Ich meint hier: das Selbst ist nicht identisch mit dem Ego, sondern schließt auch das aus, was jenseits der bewussten Kontrolle liegt.
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Es ist verwoben, relational, durchlässig – kein Besitz, sondern ein Prozess, der das Ich übersteigt.
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In östlichen Philosophien (z. B. Buddhismus) gilt: Das wahre Selbst ist leer vom Ich. In der westlichen Tiefenpsychologie (z. B. Jung) wird das Selbst als Ganzheit des psychischen Systems verstanden – inklusive Schatten, Archetypen, Kollektivem Unbewussten.
2. Systemisch-biologische Perspektive: Das Selbst als emergente Struktur
a) Autopoiesis und Grenzen
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In der Systemtheorie (Maturana/Varela) ist ein lebendes System autopoietisch: es erhält seine Struktur selbst aufrecht.
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Die Grenze zwischen Innen und Außen ist nicht absolut, sondern operational: sie dient dem Austausch, nicht der Isolation.
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Das Selbst ist hier ein offenes, dynamisches System, das auf Umwelt, Geschichte, Evolution und Mikrobiom angewiesen ist – also wesentlich Nicht-Ich.
b) Mikrobiom, Epigenetik und Nicht-Ich-Beteiligung
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90 % der Zellen im menschlichen Körper sind nicht-menschlich (Bakterien, Viren etc.).
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Gene werden durch epigenetische Signale aus Umwelt, sozialen Beziehungen, Ernährung u.v.m. aktiviert oder deaktiviert.
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Das bedeutet: Unsere Identität entsteht durch Interaktion mit dem Nicht-Ich. Das Selbst ist ko-konstituiert.
3. Psychologische Dimension: Das Selbst als Prozess und Relation
a) Tiefenpsychologisch (Jung, Kohut, Stern)
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Das Selbst umfasst das Unbewusste, das Körpergedächtnis, Beziehungserfahrungen.
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Es entsteht im Kontakt mit dem Anderen – etwa in frühen Bindungserfahrungen.
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Auch das, was wir verdrängen (Schatten), gehört zum Selbst – ist aber Nicht-Ich im Ich.
b) Neuropsychologisch (Damasio, Metzinger)
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Das Ich ist ein nützliches Modell, kein Substanzkern.
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Das Selbst ist kein Ding, sondern eine temporale Konfiguration von Wahrnehmung, Körperzustand, Affekt und Gedächtnis.
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„Ich“ ist also eine Funktion, nicht das Zentrum – was wir sind, ist auch das, was nicht unter bewusster Kontrolle steht.
4. Philosophisch-spirituelle Dimension
a) Buddhismus & Advaita
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Anatta (Nicht-Selbst): Es gibt kein festes Ich – nur prozesshafte Erfahrung.
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Das wahre Selbst ist frei vom Ego, weil es radikal offen ist.
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Die Befreiung geschieht, wenn wir uns nicht mehr mit dem Ich identifizieren.
b) Mystische Traditionen (Meister Eckhart, Rumi, Heidegger)
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Das wahre Selbst liegt im Loslassen des Ich.
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Eckhart: „Damit Gott geboren werde in der Seele, muss das Ich sterben.“
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Heidegger: Das Selbstsein ist nicht Ich-Sein, sondern offen sein für das Sein – ein „Sich-überlassen“.
5. Konsequenz für die normopathische Gesellschaft
Die heutige Gesellschaft fördert ein hypertrophes Ich:
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Kontrolle, Selbstoptimierung, Sichtbarkeit, Individualismus.
Doch:
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Das Selbst als Nicht-Ich weist auf Verwundbarkeit, Bezogenheit, Transzendenz hin.
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Eine Kultur, die das Nicht-Ich abwehrt, erstickt Empathie, Resonanz, Offenheit.
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Heilung beginnt dort, wo das Selbst sein Nicht-Ich zulassen darf: Natur, Anderer, Körper, Kosmos, Unverfügbares.
Resümee:
Das Selbst ist nicht das Ich. Es ist ein Raum, in dem das Ich sich begegnet – und überschreitet.
Es ist emergent, relational, verwundbar – und damit zutiefst lebendig.
Ihr
Eduard Rappold
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